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 Tenderenda der Phantast
Hugo Ball

intermedium 070
Erschienen im August 2018
2 CDs, Digipak, 128:44 Min.
ISBN 978-3-946875-70-3
Empf. Preis 20,00 €

Redaktion: Herbert Kapfer
Herausgegeben von Katarina Agathos, BR Hörspiel und Medienkunst
Realisation: Michael Farin
Ton und Technik: Boris Wilsdorf
Musik: Franz Hautzinger

Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst 2016

Mit: Meret Becker, Nadeshda Brennicke, Katharina Franck,
Patrick Güldenberg und Lilith Stangenberg

Hugo Balls ungestümes, wild überbordendes Konvolut TENDERENDA (im Herbst 1914 begonnen, im Juli 1920 beendet) ist das »geheime Vermächtnis« DADAs. Obwohl es den DADA-Aficionados erstmals 1967 in Buchform zugänglich gemacht wurde, waren bereits zu Lebzeiten Balls markante Teile dieses als »work in progress« entstandenen Textes auf diversen DADA-Soiréen immer aufs Neue bühnenwirksam erprobt worden.

Wer sich heute an TENDERENDA wagt, dem entzündet sich ein Feuerwerk. Die Überschriften der 15 Sequenzen – »Das Karusselpferd Johann« etwa, »Der Untergang des Machetanz«, »Satanopolis«, »Grand Hotel Metaphysik«, »Bulbos Gebet und der Gebratene Dichter«, »Der Verwesungsdirigent« – sind dabei Programm. Jedes Genre ist erlaubt. Alles ist Parodie, alles Subversion. Eine jede Phantasie führt in die richtige Richtung – und weist dabei stets auf jenes erschütternde Ereignis hin, das die damalige Welt komplett aus den Angeln gehoben hat: den Ersten Weltkrieg.

Seither war nichts mehr wie es war. Schon gar nicht die Kunst. Wie alle weltanschaulichen Gebäude zerfiel auch sie in lauter Einzelteile. Mit phantasievollen Tricks versuchten Künstler allerorten, sich den perfiden Gedankengängen der Herrschenden zu entziehen. Sie unterliefen die an sie gesteckten Erwartungen und konterkarierten den Wahnsinn der Welt durch Klamauk, was gedanklichen Tiefgang nicht ausschloss.

Ihr Mittel, sich vom technokratischen Wahnsinn der Kriegstreiber zu distanzieren, war die absolute Freisetzung der Sprache. Und auch wenn sie dabei nicht selten um das Goldene Kalb des l‘art pour l‘art tanzten, wurden sie vielleicht gerade deswegen – je zynischer die Farce – zur moralischen Instanz. Denn »in dem Maße, in dem sich das Grauen verstärkt, verstärkt sich das Lachen. Die Gegensätze treten grell hervor. Der Tod hat magische Gestalt angenommen. Sehr bewusst wird dagegen das Leben verteidigt, die Helle, die Freude. Die hohen Gewalten treten persönlich in die Schranken. Gott tanzt gegen den Tod.«
 
 


 

Am Königsweg
Elfriede Jelinek

intermedium 069
Erschienen im August 2017
7 CDs, 12 Seiten, Digipak, 376 Min.
ISBN 978-3-946875-52-9
Empf. Preis 38,00 €

Dramaturgie und Redaktion: Herbert Kapfer
Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst 2017

Am Abend, an dem Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, begann Elfriede Jelinek, ihr Stück Am Königsweg zu schreiben. Vor Trumps Amtseinführung hatte die Autorin eine erste Fassung des Textes abgeschlossen. Der Bayerische Rundfunk präsentierte seine Hörspielproduktion Am Königsweg als deutsche Erstinszenierung in zwei Varianten: Eine Fassung in drei Teilen, die in der Gesamtlänge von vier Stunden den ungekürzten Text ausbreitet, und eine eigenständige, das gesamte Material komprimierende Miniaturfassung, die, ebenfalls in drei Teile gegliedert, in 53 Minuten eine Königsweg-Abkürzung anbietet. Beide Fassungen liegen hiermit auf CD vor.

Schon die Konstellation hier Elfriede Jelinek, dort Donald Trump verspricht einen Schaukampf: Auf der einen Seite die Literaturnobelpreisträgerin und Dramatikerin, die in ihren Werken ebenso sprachmusikalisch wie -analytisch die Inszenierungen politischer Macht und Verbrechen seziert und offenlegt, auf der anderen Seite ein skrupellos agierender Milliardär, Bauunternehmer und Skandalproduzent, der in einer jähen Wendung jene politische Rolle übernimmt, die ihn zum mächtigsten Mann der Welt werden ließ.

Stimmen: Mechthild Großmann, Helga Fellerer, Kathrin von Steinburg, Peter Brombacher, Christoph Jablonka, Thomas Albus, Christian Gaul, Sebastian Weber, David Zimmerschied, Johannes Herrschmann, Katja Bürkle, Johannes Silberschneider und Elfriede Jelinek 

Musik: Sven-Åke Johansson / Elliott Sharp / Chor des Bayerischen Rundfunks 
und Akademie für Alte Musik Berlin
Leitung: Howard Arman
Ton: Michael Krogmann
Technik: Susanne Herzig
Tonmeister: Occasional Oratorio – Bernhard Albrecht
Besetzung: Andrea Fenzl
Regieassistenz: Stefanie Ramb
Regie: Karl Bruckmaier



 

Die Schutzbefohlenen. Coda
Die Schutzbefohlenen. Appendix 
Elfriede Jelinek

Lesungen von Elfriede Jelinek zu Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen

intermedium 068
Erschienen im August 2017
Doppel-CD, Digipak, 115 Min.
ISBN 978-3-946875-51-2
20,00

Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst 2016
CD 1: Die Schutzbefohlenen. Coda – 29. September 2015 / 7. Oktober 2015
CD 2: Die Schutzbefohlenen. Appendix – 18. September 2015

Da zittert was, das Boot, es zittert, das ist doch Zittern, oder?, nein, dafür gibt es noch ein andres Wort, nein, das paßt mir auch nicht, es wackelt, das Boot, es schwankt, wahrscheinlich weil Hermes und Athene nicht als Pinne im Kompaß eingebaut sind, zwischen ihnen zittert was, das Boot zittert vor Angst, nein, es schaukelt, weil diese Leute nicht ruhig sitzen können; kein Mann hält die Segel, Segel hat es keine, die wären aber praktisch, es hat noch Luft, das Boot, es wird sie auch brauchen, da ist noch Luft drinnen, aber nicht mehr lang. Da ist noch Luft nach oben, aber nicht mehr lang. Dann gehts nach unten, dann nehmen wir ein Bad. Der Körper wird zum Gedanken wird zum Körper, und der Gedanke verhält sich zu seinem Wirt wie die Schneide zum Messer. Gehts hier in den marmornen Wald mit steinernen Bäumen, wenn ja, dann wären wir gern hier, nein, hier gehts nach Griechenland zu den Göttern, womöglich kommen Sie nie hin, Sie und die Kameraden, bitte, das Boot ist wie ein, jetzt fällt es mir nicht ein, wie ein dicht bestecktes Nadelkissen in der Weiberwelt, voll will ich nicht sagen, ja, aber voll ist es trotzdem. Kein Nadelwald in der Nähe, den hat das Boot gemieden, das Wasser satter als Glas, aber unzerbrechlich, es teilt sich, es wächst zusammen, was zusammengehört, alles eins, Wasser eben. Nur die Menschen gehen kaputt, die hineinfallen. Zerbrechen können sie nicht, das Wasser nimmt sie auf, es nimmt die Menschen in den Schnabel, nein, Schnabel kann man nicht sagen, so wie man zittern nicht sagen kann, bitte, kann mir jemand neue Wörter hereinreichen, vielen Dank, Wörter marschieren, auch hier sind welche aufgeschrieben, die Küche ist eröffnet, nur zu essen gibt es nichts, nein, zu trinken auch nicht, ist Ihnen das denn nicht genug Wasser hier, wollen Sie etwa noch mehr?



 

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion 
durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 
Frank Witzel

intermedium 067
Erschienen im September 2016
Doppel-CD, 4 Seiten, Digipak, 158 Min.
ISBN 978-3-946875-50-5
€ 20,00

Bearbeitung: Frank Witzel und Leonhard Koppelmann
Musik: Frank Witzel
Ton und Technik: Gerhard Wicho, Daniela Röder
Besetzung: Andrea Fenzl
Regie: Leonhard Koppelmann
Dramaturgie und Redaktion: Katarina Agathos

Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst 2016
Ursendung: Bayern 2, 25. Juni 2016
 

Gudrun Ensslin, eine Indianersquaw aus braunem Plastik, und Andreas Baader, ein Ritter in schwarzglänzender Rüstung – so vermischen sich im Kopf des 13-jährigen namenlosen Erzählers in Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 – die politischen Verwerfungen in der BRD des Jahres 1969 mit seinen kindlich-spielerischen Fantasien.
Das Jugendzimmer wird hier zum Echoraum der Geschichte und der hier ausgetragene Aufstand gegen die Trias Familie, Staat und Kirche ist nicht minder real, als die von der RAF geträumte Revolution auf bundesdeutschen Straßen. Zusammen mit dem Teenager begeben wir uns in den oszillierenden Raum seiner manischen-depressiven Störung – seine Lebensorte überlagern sich und verwischen, da erscheinen das bereits erwähnte Jugendzimmer ebenso, wie der letzte Ort seines kurzen Lebens im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
In diese Echoräume schieben sich aber immer wieder auch konkrete Lebenserinnerungen des Teenagers. Die Vergangenheit, ihr Geruch, ihr Geschmack und die darin wohnenden Ängste und Traumata brechen durch eine mühsam geklitterte Oberfläche, genauso wie in dieser Zeit die Wundkrusten der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft aufreißen und die Metastasen der verborgenen und verdrängten Nazizeit plötzlich freilegen. Seine Jugend zwischen Kirche und Krankheit setzt den jugendlichen Erzähler fortwährenden Befragungs-, Verhör- und Geständnissituationen aus – ob in seiner Therapie oder im Beichtstuhl.
Und mit jeder Frage und jedem Geständnis brechen neue Krusten auf. Schließlich erliegt er diesem inneren Zeitbeben. Über seine manisch-depressive Störung befindet der Erzähler dabei, „man ist ja nicht immer wahnsinnig, sondern man ist wahnsinnig und dann wieder nicht, so wie man liebt und dann wieder nicht.“ So unstet wie seine Zustände ist auch seine Erzählung, und so befindet er weiter: „erlöse uns von unseren Gedanken und Meinungen und dem Versuch, Geschichte zu rekonstruieren und immer gleiche Gedanken in Wiederholungen zu perpetuieren und damit das kardiovaskuläre System langsam nach unten zu fahren.“
Das Aufheben der linearen und chronologischen Erzählweise ist hier eben nicht erzählerisches Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck dieser „frei in der Zeit flottierenden Geschichtsschreibung“, mit der sich Frank Witzels Roman gegen die herkömmliche Deutung der Geschichtsschreibung und Interpretation wendet.

Katarina Agathos: Die 1960er Jahre könnte man als die Pubertätsjahre der BRD beschreiben. Wäre es für Sie denkbar, Ihren Roman in einer anderen Zeit spielen zu lassen?
Frank Witzel: Nein, eigentlich nicht. Warum ich diese Zeit unbedingt beschreiben wollte, liegt genau in dem Zusammentreffen von zwei Pubertäten, zum einen die Pubertät des Teenagers und zum anderen die der Bundesrepublik. Der Teenager ist zwar noch kindlich, aber er reflektiert dieses Kindlichsein bereits. Er ist noch kein Erwachsener, eigentlich auch noch kein Jugendlicher, aber er bewegt sich in die Richtung und stellt sich entsprechende Fragen: Was ist Sexualität? Was ist Politik? Wie funktioniert eine Abgrenzung zu den Eltern? Was ist Vergangenheit? Mit welcher Historie wachse ich auf? Gleichzeitig gibt es einen gesellschaftlichen Bruch. Der Teenager lebt in der Kleinstadt Biebrich, in der Provinz. Dort ist das Beharrungsvermögen der 1950er Jahre noch ganz stark: Kirche, Familie, Schule und Staat funktionieren hier noch als Autoritäten. Er ist nicht in Berlin, Hamburg, München, oder im nahegelegenen Frankfurt, wo die Oberstufler, die großen Brüder, ein relativ lockeres Leben führen, wo sie protestieren, wo der Pop, der Beat schon integraler Bestandteil einer Lebenskultur sind. Bei ihm ist es eher grau. Allerdings zeigen sich hier und da erste bunte Flecken in Form von Beat-Musik und Flowerpower. Die Veränderung des Teenagers und die Veränderung der Bundesrepublik, beide habe ich quasi exemplarisch in diesem Sommer 1969 zusammengefasst und beschrieben.
(Auszug aus dem Booklet)

Der Autor
Frank Witzel, geb. 1955 in Wiesbaden, Autor, Essayist, Zeichner, Musiker. Für seinen Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 erhielt er den Deutschen Buchpreis 2015 sowie den Robert Gernhardt Preis 2012. Weitere Veröffentlichungen u.a. Bluemoon Baby (2001), Revolution und Heimarbeit (2003), Vondenloh (2008).  



 

Speicher
Michaela Melián

intermedium 066
Erschienen im Februar 2016
CD, 4 Seiten, Digipak
ISBN 978-3-943157-24-6
€ 15,00

Redaktion: Katarina Agathos / Herbert Kapfer
Mitwirkende: Stefan Merki, Hans Kremer, Peter Brombacher, Christos Davidopoulos, Chris Dercon, Laura Maire
Komposition: Michaela Melián / Carl Oesterhelt
Produktion: Bayerischer Rundfunk / Hörspiel und Medienkunst in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen 2008

Thematischer und formaler Ausgangspunkt für »Speicher« ist »VariaVision – Unendliche Fahrt«, die 1965 realisierte, heute verschollene intermediale Arbeit von Alexander Kluge (Texte), Edgar Reitz (Filme) und Josef Anton Riedl (Musik) zum Thema des Reisens. »VariaVision« versuchte als Rauminstallation durch die gleichzeitige Vorführung und Wiedergabe von Filmen, mehrkanaliger Musik und Sprache eine neue und andere Wahrnehmung von Musik, Film und Text zu verwirklichen. Reitz und Kluge unterrichteten damals an der internationalen Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens zwischen 1955 und 1968 maßgeblich die deutsche und internationale Design-, Kunst- und Mediengeschichte geprägt hat. Die HfG führte als private Hochschule, getragen durch die Geschwister-Scholl-Stiftung, die gewaltsam beendete Tradition des Bauhauses fort und definierte für die BRD die Begriffe Moderne / Utopie / Gestaltung / Alltagskultur / Erziehung / frühe digitale Kultur im Sinne eines demokratischen und ästhetischen Neuanfangs in Deutschland nach 1945, zwischen Utopien und Realitätssinn. So befand sich in der Hochschule ab 1963 eines der ersten elektronischen Studios in Westdeutschland, das 1959 in München gegründete Siemens-Studio für elektronische Musik. Das Studio mit seinem Versprechen von neuen, rein elektronisch erzeugten Klängen, wurde seinerzeit sehr erfolgreich international von Komponisten und Musikproduzenten genutzt, heute ist es im Deutschen Museum München ausgestellt. Riedl realisierte in diesem Studio die Musik für »VariaVision«. Für »Speicher« hat Michaela Melián das Studio im Deutschen Museum München noch einmal zum Klingen gebracht. Diese Klänge, Töne, Geräusche wurden aufgezeichnet und bilden die klanglichen Basisbausteine für »Speicher«. Dazu verschränkt sie Aussagen und Texte zu Reise und Bewegung zu tönenden Schleifen und Spiralen.

Kunst und Diskurs
Das Motiv des Reisens, Wanderns, des Gefühls des Fremdseins, der Entfremdung, der Suche und Sehnsucht nach dem Fremden, dieses »doppelte Leben« (zwischen Wirklichkeit und Einbildung) entfaltet sich hier entlang von sich permanent durchkreuzenden Diskursen als Mehr- und Vielstimmigkeit unendlicher Potentiale. Schuberts »Winterreise« (»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«) und Alexander Kluges Motto »Mit dem Stadtplan von London den Harz durchwandern« (aus »VariaVision«) treffen auf Texte über Migration, Schleppertum, Deportation und werden ihrerseits immer wieder durch GPS-Ansagen durchschnitten, die ein gänzlich anderes Reisen (ein kontrolliertes, vorgegebenes) ins Spiel bringen. Auch das macht »Speicher« klar. Das romantisch Geheimnisvolle, die Lust (und Freiheit) sich auf etwas Unsicheres einzulassen, kippt immer wieder ins Unheimliche, führt ins Nichts (wird zum Zwang) und kommt immer wieder beinahe zum Stillstand (wo dann auch die Musik verschwindet/abbricht). Meliáns »Politik der Erinnerung« ist eine popkulturell wie diskursanalytisch geschulte Bearbeitung von Geschichte und Geographie. Gerade das von ihr immer wieder bearbeitete »Zeitloch BRD« (Jan Verwoert), grob situiert zwischen dem Nationalsozialismus, der RAF und immer wieder um Bernward Vespers 1977 erschienenen Roman Die Reise kreisend, ist seit dem Mauerfall immer mehr einem Vergessen qua institutionalisierter Erinnerungskultur ausgesetzt. Meliáns Arbeiten setzen dem das Wiederentdecken von non-konformen Potentialen entgegen, von aus der Geschichte gefallenen Menschen und Utopien (sozialen, politischen, öko-nomischen, technischen, ästhetischen, sexuellen, ethnischen, medialen). Kurz: Kunst als Diskursintensivierung, als permanente Kartografie mit immer neuen Orten, Personen, Begebenheiten, Geschichten, Zeichen, Wegen, Linien und Kreuzungen. Man muss nur den Fäden, Linien, oder Melodien folgen. Vielleicht meint Pop in diesem Zusammenhang ja auch, dass den Fährten hin zu den intendierten Diskursen auch ohne kontextuellem Vorwissen gefolgt werden kann.
(Didi Neidhart)

Konzeption und Text: Michaela Melián
Komposition: Michaela Melián / Carl Oesterhelt
Mitwirkende: Stefan Merki, Hans Kremer, Peter Brombacher, Christos Davidopoulos, Chris Dercon, Laura Maire
Ton und Technik: Wilfried Hauer / Susanne Herzig
Assistenz: Katja Langenbach
Realisation: Michaela Melián
Redaktion: Katarina Agathos / Herbert Kapfer

 


  

Klänge
Wassily Kandinsky

intermedium 064
Erschienen im Februar 2016
Doppel-CD, 4 Seiten, Digipak, 130 Min.
ISBN 978-3-943157-64-2
20,00

Projektidee und Redaktion: Herbert Kapfer
Konzept und Zusammenstellung: Karl Bruckmaier

Als »Klänge« Von Wassily Kandinsky 1912 im Münchner Piper Verlag erschien – Auflage: 345 Stück – ahnten weder Verlag noch Öffentlichkeit, dass mit diesem schmalen Band mit seinen Holzschnitten und 38 Prosagedichten als Bindeglied zwischen Epochen und Stilen legendär werden sollte. Kandinsky selbst betrachtete die entstandene Verknüpfung von Bild und Text als Befreiung, Als Akt der Überwindung künstlerischer Beschränkungen. »In der Vergangenheit wurde ein Künstler stets schief angeschaut, wenn er sich schriftlich auszudrücken suchte – als Maler hatte man sogar mit dem Pinsel zu essen und so zu tun, als gäbe es keine Gabel.« So wie sich Kandinsky in seiner Malerei Schritt für Schritt von der Gegenständlichkeit entfernte, so versuchte er parallel dazu in einer ihm eigentlich fremden Sprache die oberflächliche Bedeutung der Wörter zu überwinden, die Möglichkeit einer neuen Bedeutung, die sich nur in Klang und Rhythmus des jeweiligen Wortes erschloss, zu ergründen. Manches erinnert hierbei an die expressionistische Dichtung der Zeit, doch geht Kandinsky oft auch einen Schritt weiter, gelingen ihm Zeilen, die schon auf etwas verweisen, das bald Dada heißen wird. Kein Wunder, dass Hugo Ball über »Klänge« ins Schwärmen gerät: »Niemand, nicht einmal die Futuristen, haben die Sprache dermaßen ausgemistet.« Wenn Kandinsky schreibt, können wir dem Maler beim Sehen zuhören – so nahe kommen wir selten dem Schaffensprozess eines bildenden Künstlers. Dies mag daran liegen, dass für Kandinsky das Schreiben »bloß ein Wechsel des Handwerkszeugs« ist: »Statt der Palette verwende ich nun die Schreibmaschine. aber mein innerer Antrieb bleibt derselbe.«

Das »Klänge«-Projekt der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks, angeregt von Herbert Kapfer, realisiert von Karl Bruckmaier, übergibt nun diese Texte Kandinskys nach über einem Jahrhundert einer neuen, pop-sozialisierten Generation von Künstlern – die meisten Musiker, manche auch in der bildenden Kunst aktiv, manche selbst Kunstsammler und Kenner -, um auszuloten, welche Wechselwirkung die »pression intérieure« des nachgerade archetypischen »modernen Künstlers« Kandinsky in einem neuen Kontext auszulösen in der Lage ist.

Mit: Federico Sánchez / Belp / Antye Greie / Kaiku Choir Hailuoto / Chris Cutler / Susanne Lewis / Bob Drake / Wrekmeister Harmonies / Jeff Beer / Lydia Daher / Tobias Von Glenck / Markus Christ / Moritz Illner / Emily Manzo / Christy & Emily /david Grubbs / Eli Keszler / Sophia Domancich / Sylvaine Hélary / Yves Rousseau / Simon Goubert / Saam Schlamminger / Glenn Jones / Matt Azevedo / Vladislav Delay / Gudrun Gut / The Mistakeman / Butchy Fuego /john Herndon / Erica Dicker / Katherine Young / Ken Vandermark / Roger Miller / Helga Fellerer / Detlef Kügow / Gabriel Raab / Kathrin Von Steinburg / Sebastian Weber

Texte: Wassily Kandinsky: Klänge München: Piper Verlag 1912
Konzept und Zusammenstellung: Karl Bruckmaier
Projektidee und Redaktion: Herbert Kapfer
Realisation: Karl Bruckmaier und die Musiker
Assistenz: Steffi Ramb
Ton und Technik: Josuel Theegarten, Susanne Herzig, Daniela Röder
Design: Felix Kempf


  

"The King Is Gone"
Andreas Ammer / Markus Acher / Micha Acher

Des Bayernkönigs Revolutionstage

intermedium 065
Nach einem zeitgenössischen Text von Josef Benno Sailer
Erschienen im September 2015
CD, 4 Seiten, Digipak, 52'45 Min.
ISBN 978-3-943157-65-9
€ 15,00
 

Redaktion: Herbert Kapfer
Produktion: Bayerischer Rundfunk / Hörspiel und Medienkunst 2015

Die Mitwirkenden:
König: Friedrich Ani
Prinzessin: Eva Löbau
Prinzessin: Judith Huber
Fahrer Tiefenthaler: Wowo Habdank

Die Hochzeitskapelle:
Evi Keglmaier: Bratsche und Kinderklavier
Mathias Götz: Posaune, Percussion und Glockenspiel
Alex Haas: Banjo, Kontrabass und Harmonium
Micha Acher: Tuba und Orgel
Markus Acher: Schlagzeug und Marimba

Tröööt. Die Revolution bricht los, die „Hochzeitskapelle“ spielt Blasmusik, der letzte König ist traurig und packt seine Zigarren. Irgendjemand singt die Internationale. Und Karl Marx bekommt plötzlich doch recht: „Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Phase ist ihre Komödie.“ Die wichtigste Quelle des Hörspiels ist ein obskures braunes Heftchen eines gewissen Josef Benno Sailer, das 1919 – kurz nach der Räterevolution in München – erschien und von Carl-Ludwig Reichert in Erinnerung gebracht worden ist (Herbert Kapfer / Carl-Ludwig Reichert: Umsturz in München. Schriftsteller erzählen die Räterepublik. München: Weismann 1988). Sailer schildert dem Volk minutiös „Des Bayernkönigs Revolutionstage“. Bei einem Spaziergang im Englischen Garten wird der letzte bayerische König Ludwig III. von einem freundlichen Untertan darauf aufmerksam gemacht, dass Revolution sei: Der König möge sich lieber auf die Flucht vor der Räterepublik begeben.

So nimmt die Komödie ihren Lauf: Das königliche Automobil im Marstall ist noch aufgebockt. Die Straßen Münchens sind mit Revolutionären verstopft. Die Reise endet wiederholt im Straßengraben. Die Prinzessinnen auf dem Rücksitz sind hungrig. Nacht und Nebel brechen ein. Nirgends ist ein Hemd mit der richtigen Kragenweite aufzutreiben.

Andreas Ammers dokumentarisches Hörspiel „The King is Gone“ verbindet revolutionäre Praxis mit der Perspektive der Klatschpresse. Es schildert Weltgeschichte als Roadmovie. Und es klingt, als hätten die beiden Brüder Acher von The Notwist, um die Flucht des bayerischen Königs zu vertonen, eine All-Star-Blaskapelle um sich geschart ... was dann – so wie alles in diesem Hörstück – komisch klingen kann, aber in Gestalt der „Hochzeitskapelle“ Tatsache ist. Noch einmal Marx: „Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.“

 


  

"Frequenzmoduliertes Szenario"
Eran Schaerf

Erscheinungsjahr 2015
376 Seiten, zahlreiche Fotos
ISBN 978-3943157-61-1
€ 24,00
 

Herausgegeben von Herbert Kapfer und Joerg Franzbecker

Mit Beiträgen von Pauline Boudry / Renate Lorenz, Julian Doepp, Heike Geissler, Herbert Kapfer, Christine Lemke, Hanne Loreck, Sven Lütticken, Eva Meyer, Yigal Shalom Nizri, Annelie Pohlen, Gerald Raunig, Hans-Rudolf Reust, Margit Rosen, Eran Schaerf, Felix Stalder und Andrea Thal. Design: Flo Gaertner / Magma.
 

"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Dass der Künstler und Hörspielautor Eran Schaerf zu denen zählt, die gerne diesen wohl berühmtesten Satz von Niklas Luhmann zitieren, wäre zunächst nicht unbedingt bemerkenswert. Doch wer sich mit Schaerfs Werk auseinandersetzt, könnte Luhmanns Diktum durchaus als einen möglichen Ausgangspunkt für das Projekt FM Scenario wählen und sich der Einschätzung annähern, dass der Künstler nicht weniger als die Realität der Massenmedien zum Gegenstand seiner Feldforschung erhoben hat.

Voraussetzung ist ein Verständnis von Massenmedien, das diese nicht auf Programme und technische Verbreitungswege reduziert, sondern in den Kontext gesellschaftlicher und sozialer Gefüge rückt: Massenmedien stellen demnach, kurz gesagt, gesellschaftliche Öffentlichkeit her und erfüllen Bedürfnisse verschiedentlicher Orientierung. Eine umfassende Generierung und Präsentation breiter publizistischer Angebote setzt die Existenz sozialer und ökonomischer Organisationen voraus, die sich unter Marktbedingungen stabil oder – konsequenterweise kapitalistischem Gesetz folgend – expansiv behaupten können. Diese Medienorganisationen erfüllen einerseits einen gesellschaftlichen Funktionsauftrag, andererseits verfolgen sie eigene ökonomische, strukturelle und politische Interessen. (Herbert Kapfer).
 

"FM-Scenario – Die Stimme des Hörers" (2012–2015) ist eine Produktion von a production e.V., Berlin und dem Bayerischen Rundfunk / Hörspiel und Medienkunst, in Kooperation mit Etablissement d'en face, Brüssel; Hartware MedienKunstVerein, Dortmund; Haus der Kulturen der Welt, Berlin; Les Complices*, Zürich; Museum für Konkrete Kunst, Ingolstadt und dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.  

Das Projekt wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Funded by Kulturstiftung des Bundes (German Federal Cultural Foundation).

 


 

"Kosmokoloss"
Bruno Latour

Eine Tragikomödie
über das Klima und den Erdball

intermedium 063
Aus dem Französischen von Margit Rosen
Erschienen im März 2015
CD, 4 Seiten, Digipak, 75'49 Min.
ISBN 978-3-943157-63-5
€ 15,00
 

1. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball

Aus dem Französischen von Margit Rosen
Regie: Ulrich Lampen
Komposition: Saam Schlamminger
Dramaturgie: Herbert Kapfer
Mit: Wolfgang Pregler, Gabriel Raab, Marie Seiser, Kathrin von Steinburg, Steven Scharf, Helmut Stange, Hans Kremer, Wolfgang Hinze, Stefan Hunstein, Sylvana Krappatsch
Laufzeit: 52:22 Min.

2. Welche Kunst für welche Ökologie?

Bruno Latour im Gespräch mit Margit Rosen
Laufzeit: 23:27 Min.

Die Bewohner der Erde schlafen ruhig, denn sie haben nicht die geringste Vorstellung von dem Planeten, auf dem sie sich befinden. Sie begreifen nicht, wie sehr das, was sie für den festen Rahmen ihrer Existenz halten, ins Taumeln geraten ist. Sie weigern sich, in Erwägung zu ziehen, dass ihre Art, die Erde zu bewohnen zu einer ökologischen Krise geführt hat, die vielleicht nur ein kleiner Teil der Menschheit überleben wird. Kosmokoloss. Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball zielt auf diese Kluft zwischen der Größe dieser Krise und der Fähigkeit der Menschen, sie wahrzunehmen, zu fühlen und zu verstehen. Es ist dieser historische Moment der Unsicherheit, in dem sich in einem imaginären Theaterzelt Personen und Ideen aus der politischen Gegenwart und Geschichte sowie Figuren aus der griechischen Mythologie, der heiligen Schrift und der romantischen Literatur versammeln. Die Kontroverse entfaltet sich, als die Erdbewohner aus ihren Träumen erwachen und sich schwerfällig auf den Weg zu einer Baustelle machen, wo sich der Umriss einer riesigen Arche gegen den Himmel abzeichnet: Gab es nicht immer feuchte Sommer und milde Winter? Oder haben wir die Rückkopplungsmechanismen der Erdoberfläche unwiderruflich destabilisiert und Gaia wird uns ertränken wie die Kätzchen? Wie sollen wir mit den Monstern umgehen, die wir erschaffen haben? Was ist das Maß aller Dinge, wenn wir es nicht mehr sind? Wie können wir abgesicherte wissenschaftliche Fakten produzieren? Warum schließt sich die wissenschaftliche Debatte nicht? Sollen wir auch ohne absolute Gewissheit handeln? Rasch entsteht auf der Bühne des Theaters die Welt des "Anthropozän", einer Welt, die von einer Spezies beschädigt wurde, deren profanes Ende durch bunte PowerPoint-Präsentationen verkündet wird.
Kosmokoloss ist das erste Theaterstück des französischen Philosophen und Anthropologen Bruno Latour, der sich seit vielen Jahren der Problematik der politischen Ökologie widmet. Auf der Suche nach einer neuen Eloquenz des Politischen ist das Theater eine mögliche Form, die dem Missverhältnis zwischen der Bedeutung der aktuellen Ereignisse und dem engen Repertoire der Empfindungen und Gefühle, mit denen wir auf sie reagieren, begegnet. Die französische Originalversion entstand 2011 in Zusammenarbeit mit Frédérique Ait-Touati und Chloé Latour im Rahmen des Forschungsprojektes "Gaia Global Circus".
 

Bruno Latour, geb. 1947 in Beaune, Philosoph, Anthropologe und Soziologe, lehrt an der Science Po, Paris. Neben ethnographischen Studien in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Recht publizierte er zahlreiche Schriften zur Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, zur Wissenschaftspolitik und politischen Ökologie und kuratierte am ZKM Karlsruhe zwei Ausstellungen: "Iconoclash" (2002) und "Making Things Public" (2005).
2010 gründete er an der Science Po das "Programme of Experimentation in Arts and Politics" (SPEAP). 2013 wurde er mit dem Holberg International Memorial Prize ausgezeichnet. Werke u.a.: "Wir sind nie modern gewesen" (1998), "Die Hoffnung der Pandora" (2000), "Das Parlament der Dinge" (2001), "Iconoclash" (2002), "Von der Realpolitik zur Dingpolitik oder Wie man Dinge öffentlich macht" (2005), "Jubilieren. Über religiöse Rede" (2011).

 


 

"Letzte Lockerung"
Walter Serner / zeitblom / Dirk von Lowtzow

Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen
 

intermedium 056
Ursendung: 02.11.2012, hör!spiel!art.mix
Produktion: BR Hörspiel und Medienkunst / intermedium rec. 2012
ISBN 978-3-943157-67-3
CD, Digipak
€ 15,00
 

Stimme: Dirk von Lowtzow
Komposition, Programmierung und Realisation: zeitblom
Schlagzeug bei 'Das Meisterlied': Achim Färber
Tontechnik: Boris Wilsdorf
 

Serner schrieb die Letzte Lockerung 1918. 1920 veröffentlichte er den ersten Teil als dadaistisches Manifest. Erst 1927 kam ein weiterer Teil dazu und das Werk erhielt seinen Untertitel. Die Letzte Lockerung bietet Hinweise zu allem, worüber Kosmopoliten informiert sein sollten, darunter Menschenkenntnis, Reisen und Hotels, Männer, Frauen, Kleidung und Manieren, Elementares und Sonderlich Wichtiges. Ein Ratgeber für Dandytum und anarchischen Hedonismus, der Schlaglichter auf eine moralisch verkommene Gesellschaft wirft und die Individualität feiert.

Walter Serner, ursprünglich Walter Eduard Seligmann (Karlsbad 1889-1942 Maly Trostinez, deportiert und ermordet), Schriftsteller, Individualanarchist; gemeinsam mit Hugo Kersten und Emil Szittya Herausgeber der Zeitschrift 'Der Mistral', 1915 (Zürich), und Herausgeber der Zeitschrift 'Sirius' (Zürich) 1915-1916; mit Otto Flake und Tristan Tzara Redaktion der Zeitschrift 'Der Zeltweg' (Zürich), 1919; 1917-1920 Dada-Aktivitäten in Zürich, Genf, Paris; 1921 Bruch mit Dada.

Veröffentlichungen: Letzte Lockerung; Manifest Dada (Hannover, Leipzig, Wien, Zürich: Paul Steegemann Verlag. Die Silbergäule 62/64. 1920); Zum blauen Affen. Dreiunddreißig hahnebüchene Geschichten (Hannover, Leipzig, Wien, Zürich: Paul Steegemann Verlag. Die Silbergäule 91/98. 1920); Die Tigerin. Eine absonderliche Liebesgeschichte (Berlin: Elena Gottschalk 1925)

 


 

"Die Schutzbefohlenen"
Elfriede Jelinek

Hörspiel

intermedium 062
Produktion: BR / ORF 2014
CD, 79'40 Min.
Erschienen im Mai 2014
ISBN 978-3-943157-62-8
€ 15,00
 

Mitwirkende: Matthias Haase, Christoph Jöde, Bettina Lieder, Jonas Minthe, Janina Sachau
Regie: Leonhard Koppelmann

Chorist 1: Jonas Minthe
Chorist 2: Matthias Haase
Choristin 3: Bettina Lieder
Chorist 4: Christoph Jöde
Choristin 5: Janina Sachau
Ton: Peter Harrsch
Regie: Leonhard Koppelmann
Dramaturgie: Herbert Kapfer
 

"Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da", sagt der Chor in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. Obwohl sie in jüngster Zeit überall präsent sind, die Bilder von Flüchtlingsmengen, die sich auf Booten drängen und unter Lebensgefahr die Festung Europa zu erobern suchen, oder von aufbegehrenden Asylbewerbern in deutschen Städten, die auf öffentlichen Plätzen in den Hungerstreikt treten, um auf ihre problematische Behandlung aufmerksam zu machen; Stimmen haben diese Menschen selten. Anders in Jelineks Text: Hier meldet sich ein Chor aus Flüchtlingen und Asylsuchenden in einer lautstarken Litanei zu Wort und wird doch ungehört bleiben von den Angerufenen. Geschrieben als Reaktion auf jüngste Asylproteste in Wien, wo eine Gruppe von Flüchtlingen die Votivkirche besetzte, und später durch Zusatztexte zur Flüchtlingssituation auf Lampedusa erweitert, überführt Elfriede Jelinek in Die Schutzbefohlenen das Tagespolitische ins uralte Menschheitsdrama von Flucht und Abweisung: Die puzzleartig aufscheinenden aktuellen Ereignisse verweben sich mit anderen Texten und Diskursen, unter anderem mit Die Schutzflehenden des Aischylos. Aus den Schutzflehenden in der ältesten bekannten griechischen Tragödie werden aber vor dem Hintergrund von aufgeklärter westlicher Welt und vermeintlich allgemein gültigen humanistischen Werten die Schutzbefohlenen: also diejenigen, denen man verpflichtet ist, Schutz zu geben. Und es wird die Verweigerung dieses Schutzes nicht weniger als zum Verrat am Menschenrechtsgedanken selbst. Es ist nicht zuletzt die Entlarvung solchen Verrats, um den es im einmal devoten, einmal spöttischen und auch wieder sehr resignierten Chor der Schutzbefohlenen geht, in den sich auch andere Perspektiven mengen. In die Stimmen der Schutzsuchenden nisten sich die der Gegner und die von Ausnahmeerscheinungen, denen aus politischer Gefälligkeit, wegen "besonderer Verdienste" oder einfach nur wegen ihrer Prominenz Sonderbehandlung zuteil wird.

"Der immanente Agon von Rede und Gegenrede, von projizierter Rede und wiederholter Rede, den Fremden in den Mund gelegter Rede macht den Verrat am Menschenrechtsgedanken in den westlichen Gesellschaften deutlich, ob es sich um Österreich, Deutschland oder anderswo handelt: 'Und wenn sie erst mal da sind, liegen sie uns auf der Tasche', diese Asylbewerber, 'das werden wir verhindern'. Im Chor sind alle Stimmen da, neben Hölderlin die xenophobische von Gierbürgern und sogar eine vom Heideggervokabular überformte, deformierte (…). Die Jelineksche Sprache bewirkt das im Heideggerschen Sinne Eigentliche: Sie macht in den Variationen der Prätext-Zitate, den Umdrehungen und Wieder-Umdrehungen sprachlicher Verdrehungen die zu bloß papierner Wahrheit in den Köpfen der Bürger (auch der Politiker als Bürger) verkommene Schutzpflicht des Staates sichtbar, die der Staat gerade denen gegenüber hat, denen die Verwirklichung der Menschenrechte schon in ihren Heimatländern vorenthalten bleibt: Die Schutzbefohlenen finden auch in den Ländern keinen Schutz, die die Menschrechte immerzu anderswo einklagen, weil sie ja bei ihnen angeblich verwirklicht sind."
(Bärbel Lücke)

 

   
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